Canyonland - Leseprobe

Kapitel 15: Camping auf 3.100 Meter Höhe

Page ist die erste Stadt, die ich außerhalb der Navajo-Reservation erreiche. Der Unterschied zu den Ortschaften der letzten zwei Tage meiner Reise ist mehr als auffällig: Neben den Straßen Pages gibt es wieder Bordsteine, und in den Vorgärten zumindest einiger Grundstücke wächst dank Bewässerung saftig grüner Rasen. Kein Wunder, denn die Einwohner von Page müssen mit Wasser nun wirklich nicht sparsam umgehen. Durch den 215 Meter hohen Glen Canyon Damm wurde der Colorado River sozusagen direkt vor der Haustür gestaut. Seit 1964 hat sich das Wasser hinter dem Damm in der Canyonlandschaft aufgestaut und bildet nun einen der größten Stauseen der USA.
Bis weit hinein nach Utah reicht die Glen Canyon National Recreation Area, ein nationales Erholungsgebiet. Die Zufahrt von Land her ist nur an ganz wenigen Stellen möglich. Die eigentliche Erholung findet auf dem Wasser statt. Unzählige Hausboote tuckern auf dem Lake Powell umher. Mit ihnen kann man auch in entlegene Seitenarme hineinfahren und dort vor Anker gehen. Ein großer Bootshafen mit mehreren Verleihstationen, teilweise sogar mit überdachten Liegeplätzen, befindet sich ebenfalls in Page. Das gesamte Erholungsgebiet liegt selbstverständlich außerhalb der Reservation.
Am Glen Canyon Damm angekommen, muss ich zuerst über eine riesige und äußerst kühn angelegte Bogenbrücke quer über den etwa 200 Meter tiefen Canyon fahren. Auf der anderen Seite lese ich ein Hinweisschild, das Besucher herzlich einlädt, an einer Besichtigungstour durch den Damm teilzunehmen. Das hört sich viel versprechend an.
Wenige Minuten später steht das Motorrad auf dem Parkplatz. Kleine Springbrunnen plätschern in der angenehm kühlen Eingangshalle vor sich hin. In der Mitte des Raumes können sich die Besucher an einem Modell über Urlaubsmöglichkeiten im Bereich des Stausees informieren, an den Wänden wird auf Schautafeln über Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft und den Nutzen der Wasserkraftgewinnung geschwärmt. Mit einem Lift geht es in die Tiefen des Staudamms hinab. Alles hier unten ist gigantisch: Der Generatorenraum mit den Turbinen, die langen und blitzsauberen Gänge, durch die ich gehen muss, um schließlich an der Dammsohle wieder ins Sonnenlicht hinauszutreten. Der extra am Fuß der Betonstaumauer angelegte Rasen sieht gepflegt und sehr schmuck aus. Alles vermittelt den Eindruck, dass hier die Welt völlig in Ordnung wäre.
Ein Blick hinüber zur steilen Wand des Canyons zeigt ein anderes Bild: Der enorme Druck des Stausees presst Wasser an der Betonmauer vorbei, das innerhalb einer gut erkennbaren Gesteinsschicht durch den Sandstein bricht und vor der Staumauer im Sonnenlicht glitzernd abfließt. Inzwischen haben sich Algen und Moose an diesen immerfeuchten Rinnsalen angesiedelt. Für den Damm bestehe dabei keine Gefahr, so teilt man mir mit. Er sei so weit in den Felsen eingelassen, dass ein Ausspülen der Wände völlig ausgeschlossen sei.
Gleich neben meiner kleinen Honda stehen inzwischen eine schneeweiße BMW K 1100 RS mit goldener Beschriftung und eine Harley-Davidson, deren Modellbezeichnung ich nicht erkenne – sie ist einfach nur groß. Der BMW-Fahrer ist ein Farbiger und erinnert mich ein wenig an Errol Brown, den Sänger von Hot Chocolate. Zumindest hat er ebenso enge und zur Farbe seines Motorrades passende weiße Hosen an. Der Harley-Typ ist ein Weißer und passt mit seiner Fransenweste und dem Holzfällerhemd ebenfalls perfekt zu seinem Motorrad. Obwohl ich freundlich grüße, kümmern sich die beiden nicht um mich. Vielleicht sind sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht ist auch der Hubraum meiner Honda unter ihrer Würde. Ein zweites Mal grüße ich sie jedenfalls nicht. Ich habe den Eindruck, sie wollen sich mit mir einfach nicht unterhalten. So mache ich vom Rand des Parkplatzes aus mein Foto mit der Stahlbrücke über der Schlucht des Colorado im Hintergrund und fahre gleich weiter.
Bereits nach einer viertel Stunde erreiche ich die Staatsgrenze vom Grand Canyon State Arizona zum Bienenkorbstaat Utah – mit diesem Symbol schmückt Utah sein Willkommensschild, das gleich rechts neben der Straße steht. Geehrt werden damit die Mormonen, die durch ihren emsigen Fleiß, den Bienen ähnlich, diesen Staat durch harte Arbeit zu dem gemacht haben, was er heute ist.
Aber Utah ist nicht nur ein wirtschaftlich aufstrebendes Land, es ist auch mit zahllosen Naturschönheiten versehen, die ihresgleichen in der ganzen Welt suchen. Auch wenn nicht weit von hier gleich zwei Edel-Nationalparks, der Zion und der Bryce Canyon, liegen, habe ich mich für das eher unbekannte Cedar Breaks National Monument entschieden, das sich genau zwischen den beiden Parks befindet. Mal sehen, was es zu bieten hat.
Der Himmel wird im Laufe des Nachmittags wieder dunkler. Bald blitzt und donnert es einige Kilometer vor mir. Ich habe keinerlei Schutzkleidung in meinem Gepäck. Ich muss heute zum zweiten Mal zugeben, dass ich wohl etwas leichtsinnig aus dem sonnigen Süden Kaliforniens aufgebrochen bin. Ich hätte wissen müssen, dass zumindest hier in den Hochlagen Arizonas und Utahs Sommergewitter fast an der Tagesordnung sind. Schließlich liegen diese Hochebenen allesamt um die 2.000 Meter über dem Meeresspiegel. Zur Höhenlage kommt hinzu, dass sich in dieser Gegend gerne feuchtwarme Luft aus Mexiko mit kühlerer Luft aus dem Norden trifft – und das führt zu den Sommergewittern.
Zum Glück kann ich mich an einer Tankstelle gerade noch rechtzeitig unterstellen, als es plötzlich heftig vom Himmel zu schütten beginnt. Der Spuk hört nach einer halben Stunde ebenso schnell auf, wie er begonnen hat. Die Weiterfahrt auf regennasser Straße ist nicht ganz ungefährlich. Die Autos wirbeln viel Feuchtigkeit auf, die mir die Sicht nimmt. Außerdem ist die Fahrbahnoberfläche schmierig.
Bald erreiche ich die Abzweigung in den Dixie National Forest hinauf zum Cedar Breaks und fahre ab jetzt wieder alleine. Kein anderes Fahrzeug kommt mir mehr entgegen. Nach dem Regen ist die Luft herrlich frisch, und es duftet nach harzigem Holz, das irgendwo frisch geschlagen wurde. Die Sonne kommt wieder hervor und trocknet die Straße rasch ab. Immer höher windet sie sich bergauf.
Dann ist mein Tagesziel ausgeschildert, und bereits kurze Zeit später stelle ich den Motor der CB 450 auf dem Amphitheater Campground vom Cedar Breaks ab. Ein neuer Höhenrekord: Heute Nacht werde ich auf über 3.100 Metern zelten. Und das sehr romantisch, denn rings um mich herum blühen bunte Blumen. Schnell baue ich das Zelt auf diesen Almwiesen auf und bereite meinen Lagerplatz für den Abend vor. Ich finde sogar noch genügend Holz für das Feuer. Es ist zwar etwas feucht, aber ich werde mit dem Qualm keinen anderen Gast stören: Ich bin nämlich der einzige hier oben.
Dann fahre ich eine knappe Meile auf der kurvigen Hauptstraße weiter zum Sunset View, wo mich ein Sonnenuntergang vom Feinsten erwartet. Das Cedar Breaks National Monument hat die Form eines griechischen Amphitheaters, es ist 600 Meter tief und fünf Kilometer breit. Mein Aussichtspunkt liegt ganz weit oben und fast in der Mitte, also Loge und Sperrsitz in einem. Vor mir breitet sich eine mit Zinnen und Kegeln durchsetzte Erosionslandschaft aus, die im Abendrot glühend leuchtet. Ihre Farben verlaufen von oben nach unten hellbeige über ockergelb bis burgunderrot zart ineinander. Das kräftige Dunkelgrün der zahlreichen Zedern, die in den tieferen Lagen der Furchen und Rinnen des halbkreisförmigen Theaters wachsen, erhöht den farblichen Kontrast nochmals.
Langsam senkt sich die Sonne auf den Horizont herab und lässt die Schatten immer länger werden. Schließlich versinkt sie weit hinten im Westen hinter den Bergen Nevadas. Was für ein Sonnenuntergang.
Kaum ist der rote Ball verschwunden, merke ich die Höhe, auf der ich mich befinde – es wird ruck zuck bitterkalt. Ohne weiteren Halt kurve ich zügig zum Zeltplatz zurück und zünde ein Feuer an. Das Essen ist schnell erledigt, abgewaschen wird morgen. Der übliche gemütliche Teil auf der Bank am Feuer findet wegen der Kälte sehr verkürzt statt. Schon bald liege ich im Schlafsack.
Morgens ist der Rasen um das Zelt herum mit Raureif bedeckt. Juli in Utah auf über 3.100 Meter Höhe. Doch die Sonne meint es wieder gut mit den vielen Blumen auf der Wiese und natürlich auch mit mir. Das Frühstück dauert etwas länger als sonst, immerhin muss mein Zelt erst einmal richtig trocken werden: In der kalten Nachtluft ist viel Feuchtigkeit an der Innenwand kondensiert. Auch der Schlafsack lüftet gerade an einer Wäscheleine aus. So trinke ich noch einen weiteren Löskaffee und hole die Landkarte hervor, um die Strecke für den heutigen Tag zu planen. Zeit spielt keine Rolle, wenn im Hochland Utahs morgens auf einer Blumenwiese die Sonne scheint.

 

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