Mord am Stilfser Joch - Leseprobe

Kapitel 1

Nebel hing über den Bergen. Es war saukalt. Die feuchte Kühle drang am Hals in Richtung Nacken und von dort den Rücken hinunter. Er stellte fest, wie seine Muskeln mit Anspannung reagierten, und gab mehr Gas. Die Maschine reagierte nicht nur mit mehr Geschwindigkeit, sondern auch mit mehr Vibrationen. Endlich hatte er den Pass erreicht und es ging wieder bergab. Er zog die Maschine durch lange Serpentinen ins Tal. Die Luft wurde lau, dann warm und plötzlich kamen die ersten Sonnenstrahlen. Ein wohliger Schauer begann, über seinen Körper zu kriechen und sein Bedauern über das zu frühe Aufstehen legte sich. Die morgendliche Stunde hat ihre Vorteile. Zum Beispiel, dass er ganz alleine unterwegs war.
Er legte sich in die nächste Kurve, spürte, wie die linke Fußraste den Asphalt berührte und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Dann hörte er ein leises Plaff, sein Vorderrad kippte weg, das Motorrad zur Seite, er schleuderte in Richtung Straßenrand, die Maschine hinter ihm her. Instinktiv zog er das linke Bein an die Brust und versuchte, mit dem rechten Fuß sich von dem rutschenden Bike wegzutreten. Und dann war da Gras, ein Graben, er fiel, schlidderte einen Hang hinunter, bis er in einer Kuhle landete, das Motorrad mit einem hörbaren Platsch neben ihm.
Einen Augenblick blieb er liegen, atmete durch, während der Motor neben ihm erstarb. Vielleicht wäre er auch noch einen Moment länger liegen geblieben, hätte darüber nachgedacht, was gerade passiert war, wenn nicht jetzt ein leichtes Vibrieren an seiner linken Brust kurze Panik in ihm auslöste, bis ihm einfiel, dass es sein Handy sein musste, das sein Klingeln ankündigte und wirklich, ein, zwei Sekunden später Tina Turner mit Goldeneye loslegte. Er stand auf, öffnete das Helmschloss, zog mit der rechten Hand das Mobiltelefon aus der Innentasche seiner Jacke und mit der linken den Helm vom Kopf.
„Guten Mor…“
„Verdammt, wo bleiben Sie?“
„Ich nehme gerade ein Bad“, antwortete er.
„Das glaube ich jetzt nicht. In einer Stunde sollen Sie hier ein Sicherheitstraining abhalten und Sie liegen in der Badewanne?“
„Das habe ich nicht gesagt“, berichtigte er die Stimme am anderen Ende der Verbindung. Dabei klopfte er mit wenig Erfolg Gras und Schlamm vom Anzug.
„Machen Sie, dass Sie in Ihre Klamotten kommen und bewegen Sie Ihren Arsch hierher.“
„Das mit den Klamotten“ – und das sagte er mit einem leicht pikierten Unterton – „ist nicht das Problem. Meinen – Ähem – zu Ihnen zu bewegen, ein wohl größeres.“
Er hörte ein Schnauben in der Leitung. „Sie sind wohl ein ganz Spitzfindiger, was?“
„Auch das ist eine Frage der Betrachtungsweise“, konnte er sich wieder die kleine Korrektur nicht verkneifen. „Hören Sie, wenn Sie wollen, dass ich in einer Stunde mit dem Training beginne, müssten Sie eine Kleinigkeit dafür tun. Haben Sie einen Transporter?“
„Was glauben Sie denn?“
„Gut“, sagte er und watete zu dem im Graben liegenden Motorrad, „dann gebe ich Ihnen jetzt meine Koordinaten durch.“ Er las die Ziffern-Buchstaben-Kombination vom GPS ab und unterbrach die Verbindung.

* * *
Mercy schäumte. Die Zusammenarbeit mit dem neuen Tourguide fing ja prächtig an. Seit gestern Abend wartete sie im Hotel auf den Typ, hatte seine Aufgaben übernehmen müssen. Dazu gehörte beispielsweise, die Gäste zu begrüßen, was sie ausgesprochen ungern tat. Noch schrecklicher fand sie, dass sie auch die Auftaktansprache hatte halten müssen, außerdem ein Abendessen lang smalltalken, Benzin reden, wie der Motorradvolksmund so sagte.
Dabei konnte sie ihr Leid nicht einmal in Bier ertränken, denn ihr Job war es, sich um die Motorräder zu kümmern. Diese kamen von einer Leihfirma. Die Gäste durften sich aus einem Paket ihre Lieblingsmaschinen wünschen, doch weil der Chef – wie immer – sparte und den Verleiher im Preis wahrscheinlich an das unterste Limit gedrückt hatte, waren die Mopeds in einem erbarmungswürdigen Zustand. Also konnte sie vor dem Tourenstart jedes Mal nachts an die zehn Motorräder checken, damit kein Gast beim Sicherheitstraining am ersten Tag von der Wippe kippte.
Mercy hatte also heute Nacht kein Auge zugetan, bis die drei BMWs, zwei Hondas, jeweils eine Ducati, Suzuki, Kawa, Triumph und Harley-Davidson im morgendlichen Sonnenlicht glänzend vor der Hoteltür standen. Drumherum wuselten ers?te aufgeregte Gäste, die sich auf das Sicherheitstraining freuten und erfahren wollten, wer sie anleiten würde.
Genau das würde Mercy auch gerne wissen. Die Zentrale hatte sich bedeckt gehalten, nur etwas von „glänzender Motorradfahrer“ gelispelt, von „genau der Richtige für den Job“ geschwärmt und „der Chef weiß, was er tut“ hinzugefügt. Das wagte Mercy zu bezweifeln, wenn sie an den Vorgängerguide dachte. Der hatte meist bis morgens um fünf mit den mehr oder weniger alleinstehenden Damen in der Hotelbar Cocktails und anschließend die verschiedenen Matratzen getestet. Tags drauf war er übermüdet mit einer Grundgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern die Pässe hochgeeiert. Aus reinem Joberhaltungstrieb hatte Mercy die aufgebrachten Männer in einer eigenen Gruppe gebündelt und deren Gehirne beim Berge Rauf- und Runterjagen in Adrenalin ertränkt, bis die Herren ihr gekränktes Ego vergessen hatten. Dieses Erlebnis gedachte sie, nicht zu wiederholen.
Vielmehr gedachte sie, dem Chef einmal zu sagen, was sie von seiner Personalpolitik hielt, wenn sie ihn denn jemals zu Gesicht bekommen würde. Das war ihr bis heute nicht gelungen, er war unsichtbar, für Mercy zumindest. Sie hegte den leisen Verdacht, dass er, kaum hatte sie ihren Besuch in der Zentrale angekündigt, das Weite suchte.
Mercy sprang in den Transporter, einen orangeroten Sprinter 210 D mit knapp dreihunderttausend Kilometern auf dem Buckel, ein ehemaliges Baustellenfahrzeug der Stadt Braunschweig, was das typische weißrote Band um die Nase belegte. Immerhin hatte der Chef dem Fahrzeug ein aufgeklebtes Firmenlogo – Bikinger & Motorowski, Motorradtouren – gegönnt, allerdings nur auf der rechten Fahrzeugseite, weil diese laut Zentrale am ehesten vom Straßenrand zu lesen sei.
Schnell gab Mercy die Koordinaten ins Navigationsgerät ein. Das musste man dem Neuen lassen, mit langwierigen Ortserklärungen hielt er sich nicht auf. Überhaupt hielt er sich mit keinerlei Erklärungen auf. Warum sollte sie ihn – überhaupt – abholen? Hatte er eine Panne? Warum rief er dann nicht den ADAC?
Sie rammte den Schalthebel in den ersten Gang, ließ die Kupplung abrupt kommen, so dass der Sprinter fast einen Fünf-Meter-Sprung nach vorne machte und schoss vom Hotelparkplatz. Der Pfeil des GPS schickte sie in Richtung Hahntennjoch. Sie mobilisierte die ganzen 75 KW des Diesels, um fluchs durch die Kurven zu zirkeln.
Eine Viertelstunde später – fast ganz oben auf dem Hahntennjoch – behauptete das Navi, Mercy hätte den Koordinatenpunkt erreicht, doch sie sah weder Mensch noch Fahrzeug. Sie fuhr in eine kleine Bucht am rechten Straßenrand und griff zu ihrem Handy, als sich in ihrem linken Augenwinkel etwas bewegte. Es stand auf einer Wiese und wedelte mit den Armen, so wie ein Überlebender auf einer einsamen Insel dem rettenden Flugzeug zuwinkte, das dann doch weiterflog.
Mercy stieg aus, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich erst einmal an die logofreie Wand des Sprinters. Würde sie noch rauchen, hätte sie sich jetzt erst einmal in Ruhe eine Zigarette gedreht und den Mann auf der Wiese betrachtet. Jetzt sah sie auch ein Motorrad, das mit dem Vorderrad in einem Graben steckte. Und jetzt wurde ihr auch klar, was der Typ mit ‚ich nehme ein Bad’ gemeint hatte. Sie musste grinsen. In ihrem Bauch begann es zu vibrieren, die Vibrationen wurden zu Wellen, die über den Brustkorb nach oben stiegen, bis sie in ein lautes Gelächter ausbrach. Das war also der neue Tourguide. Auf der Fahrt zum Sicherheitstraining von der Fahrbahn gerutscht. Welch ein erneuter Glücksgriff ihres Chefs.

 

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