Tödliche Falle - Leseprobe
Das Ortsschild von Köln glänzte im schwindenden Licht des Sommertages. Die Aprilia überquerte die unsichtbare Grenze und fuhr weiter in Richtung Stadt. Das Motorrad war ganz alleine auf der Allee unterwegs, halb Deutschland hockte vor dem Fernseher und verfolgte ein Spiel der Fußballweltmeisterschaft. Der Aprilia-Fahrer genoss die autofreie Straße und den Anblick der Maisfelder links und rechts der Allee. Quer über der Fahrbahn vor ihm glänzte ein schmaler Lichtstreifen. In dem Landstraßentempo, mit dem er auf der Tuono unterwegs war, dauerte es zwei Herzschläge, bis der Mann erkannte, was diesen Lichtstreifen erzeugte. Dann war es zu spät, um noch zu reagieren. Das Drahtseil traf ihn über der Brust in Höhe der beiden Schlüsselbeine und rutschte nach oben, als es sich straffte. Wie eine Klinge schnitt es durch das weiche Fleisch seines Halses, zertrennte die Schlagadern und glitt zwischen zwei Halswirbeln durch die Wirbelsäule. Der Kopf trennte sich vom Körper und flog in einem hohen Bogen auf die Straße. Der Motorradhelm ließ ihn vom Asphalt abprallen, er rutschte einige Meter weiter und drehte sich dann wie ein Würfel auf der Stelle, bis er zum Stillstand kam. Der kopflose Torso ging mit leichter Verzögerung vom Gas. Das reichte, um die Maschine stabil weiterfahren zu lassen. Die Tuono lenkte etwas nach links, überquerte den schmalen Grünstreifen am Rand der Straße und verschwand im Maisfeld, bis das Motorrad nur noch mit Standgas weiterrollte und sich dann sanft auf die Seite legte. Der Motor erstarb und eine atemlose Stille legte sich über das Feld. Der Helm lag am Straßenrand, als hätte ihn gerade ein Motorradfahrer vom Kopf genommen und vorsichtig abgelegt. Die Augen im Schädel starrten auf das Maisfeld. Dämmerung legte sich behutsam über das Leuchten des Sommertages. Aus der Ferne drang zart ein Brausen herüber. Im WM-Spiel war das erste Tor gefallen.
1.
„Wo bist du gerade?“
Pauls Anruf war dienstlich, erkannte Axel am Tonfall. Er wünschte, er hätte das Vibrieren seines Handys in der Kombi ignoriert. Axel feierte endlich die Überstunden seiner Arbeit bei der Kölner Mordkommission ab. Als der Anruf seines Freundes und Kollegen Paul Lehmann von der Motorradstaffel kam, drückte er seine Kawasaki gerade an der Tankstelle nach einer schönen Tour vom Hauptständer. Axel hatte dem Verlangen, mit einem anderen Motorradfahrer über seine Ausfahrt zu reden, nicht widerstehen können. Wenn er die Schärfe in Pauls Stimme richtig interpretierte, wollte der aber nichts von seinem Ausflug ins Vorgebirge hören.
„Ich bin quasi zuhause. Habe gerade an meiner Lieblingstankstelle getankt.“
„Dann komm her. Zur kleinen Landstraße von Meschenich Richtung Blutbuchen, am Anfang der Allee. Kurz hinter dem Kölner Ortsschild.“
„Was ist denn los? Ich habe frei, Herrgott noch mal. Feierabend, Siesta, chillen, verstehst du?“
Axel erkannte die Erschütterung seines Kollegen mehr am Tonfall, als an dem, was er sagte.
„Ich stehe hier und sichere einen Tatort ab. Vor mir auf der Straße liegt ein Motorradhelm. Und darin steckt ein Kopf. Von einem Motorrad ist weit und breit nichts zu sehen. Der Rest des Körpers fehlt auch. Etwas ungewöhnlich für einen Verkehrsunfall.“
Axel seufzte. Als Kommissar der Mordkommission interessierte er sich für den Toten auf der Landstraße. Ganz besonders, wenn es ein toter Motorradfahrer war.
„Alles klar, Paul. Bitte verständige die Kollegen von der Spurensicherung, falls du das nicht schon getan hast. Ich bin in zehn Minuten bei dir.“
Axel legte auf. Im selben Augenblick stieß das Handy einen der bizarren Glockentöne aus, mit dem es ihm den Eingang einer neuen SMS mitteilte. Er drückte mit seinem Daumen vorsichtig die Miniaturtasten der Menüführung, um die SMS lesen zu können. Herzlichen Glückwunsch! Der neue Termin für die Freischaltung Ihres Telefonanschlusses ist … Der Rest der Mitteilung bestand nur noch aus sinnfreien Sonderzeichen. Axel seufzte. Seit er vor zwei Wochen bei sich zuhause den Telefonanbieter gewechselt hatte, kämpfte er unentwegt mit Service-Hotlines und versäumten Technikerterminen. Neuerdings erhielt er regelmäßig unleserliche Mitteilungen über die versprochene Freischaltung seines Telefons. Selbstverständlich blieb seine Telefonleitung bisher mausetot. Aber das musste er im Moment ignorieren. Der tote Motorradfahrer bei Meschenich hatte Vorrang.
Axel brauchte nicht auf eine Lücke im abendlichen Pendlerverkehr zu warten, der größte Teil der Autofahrer war bereits zuhause und vor einem Fernseher. Er ermahnte sich, in der Ortschaft nicht zu schnell zu fahren. Erstens half ihm auf seinem privaten Motorrad kein Blaulicht dabei, abbiegenden Autofahrern klar zu machen, dass er im Einsatz war. Zweitens hatte er sich vorgenommen, auf eine Empfehlung von Valentino Rossi zu hören. „If you want to go fast get on a racetrack“, hatte der im Abspann einer Dokumentation über den MotoGP in italienischem Englisch gesagt und dabei ernst in die Kamera geschaut. Axel blickte kurz nach unten auf den zerbeulten Tank seiner Z 1000. Herr Rossi hatte absolut Recht. Wenn Axel nicht bei einem Renntraining in Assen, sondern nach dem Kontakt mit einem Auto im Straßenverkehr gestürzt wäre, hätten die Folgeschäden nicht nur aus blauen Flecken, Prellungen und einem Blechschaden bestanden. Axel ließ die Z also mit etwas mehr als fünfzig Stundenkilometern die Dorfstraße entlangrollen. Er fuhr an seinem Heim vorbei, ohne in die Garageneinfahrt abzubiegen. Renate war vor langer Zeit ausgezogen, seitdem wirkte das Haus, ohne Gardinen vor den Fenstern und mit seinen halbleeren Zimmern, deprimierend unbewohnt. Vielleicht hatte sich Axel an den Zustand gewöhnt. Vielleicht wartete er immer noch darauf, dass Renate zurückkehrte.