Reiseführer

Vor der nächsten Serpentine bremste er, bis das ABS einsetzte. Er war zu schnell, zwang das Motorrad aber in die Kurve. Die Reifen quälten sich bei dem Versuch, den Kontakt zum Boden nicht zu verlieren. Weil ihnen das offensichtlich gelang, setzte Axel sie noch mehr unter Druck und beschleunigte sanft, aber konsequent Richtung Kurvenausgang. Sein evolutionäres psychisches ABS regelte vor der nächsten Kurve seine Risikobereitschaft fein nach, damit er das Limit ein wenig nach unten korrigierte, um etwas langsamer in die Kurve zu gehen. Zwei Kurven weiter konnte er den grünen Fleck bereits durch die lichten Baumgruppen am Hang unter sich sehen, eine Serpentine später war die Kastenform des Transporters erkennbar. Axel beugte sich über den Lenker, auch wenn der Luftwiderstand auf keinen Fall zu groß für die Leistung der BMW war. Er wollte zubeißen, sein Opfer erlegen. Der Fahrer des Transporters hatte seine Verfolger noch nicht wahrgenommen, er zuckelte in biederem Tempo bergab. Noch eine Kehre weiter und Axel würde ihn erreichen. Und dann? Überholen war kein Problem, aber sollte er den Transporter anschließend ausbremsen, sich quer auf die Straße stellen? Oder sich mit Handzeichen beim Überholen mit dem Fahrer zu verständigen versuchen? Axels Überlegungen wurden hinfällig, als Luigi Biaggi mit hoher Drehzahl an ihm vorbeibrauste und rasend schnell die Lücke bis zum Transporter schloss. Hut ab vor dem Carabiniere, dachte Axel. Wahrscheinlich teilte der ein oder zwei Gene mit dem gleichnamigen Motorradweltmeister. Oder alle Italiener waren auf dem Grunde ihrer Seele Rennfahrer.
Luigi nutzte ein kurzes Stück gerader Straße, um am Wagen vorbeizustechen. Axel konnte nicht sehen, was Luigi signalisierte, der Transporter ging jedenfalls vom Gas, wurde kontinuierlich langsamer und rollte schließlich nur noch im Schritttempo dahin. Die Straße war eng und ließ keine Voraussicht zu, trotzdem setzte er zum Überholen an und drückte die BMW zwischen den Transporter und die Leitplanken, die durchgehend auf der Hangseite der Straße montiert waren.
In diesem Augenblick lenkte der Transporter zur Seite, streifte Axel am Lenker und gab Vollgas, bis schwarze Dieselwolken wie von einem feuerspuckenden Drachen Axel einhüllten. Er umklammerte den Lenker mit aller Kraft und gab intuitiv Gas, damit die BMW sich stabilisierte und von dem Bodycheck erholte. Das reichte, um die letzten Meter zu überbrücken, bevor der Transporter vollständig die Gegenspur belegte. Axel war vor dem Wagen und kurz vor Luigis BMW, die mit laufendem Motor formatfüllend auf der Straße stand, Luigi einen Meter daneben am Straßenrand. Wenn Axel weiterfuhr, konnte der Transporter auf der Gegenspur an Luigis Straßensperre vorbeikommen.
Axel dachte nicht, sondern bremste voll, brachte das Hinterrad dazu, auszubrechen und zu rutschen, drückte die Maschine zu Boden und ging – zum ersten Mal seit einer Stunde im Sportunterricht im Frühjahr 1975 – in einen ziemlich guten Herrenspagat, damit sein Bein nicht unter das umfallende Motorrad geriet. Während er vom Schwung mitgerissen in Richtung Leitplanke torkelte, kreiselte die BMW einmal um die Fußraste, rutschte noch einen Meter und lag lückenfüllend da, ein ernstzunehmendes Hindernis, auch für einen zu allem entschlossenen Transporterfahrer, der einiges zu verlieren hatte. Axel prallte währenddessen mit dem Knie gegen die Leitplanke, ließ sich fallen und schaffte es mit Mühe und Not, nicht unter der Leitplanke durchzurutschen und im Dunkel des steilen Hanges dahinter zu verschwinden. Er wollte auf dem Boden liegend herumwirbeln, um die Ereignisse in seinem Rücken nicht aus den Augen zu verlieren, der Schmerz in seinem Knie zwang ihn aber zu einer halben Drehung in Zeitlupe.